" .... Hier stehen nun die Länder in ihren rechten Proportionen: Schweden ist nicht
mehr grösser als Spanien, Kanada nicht mehr grösser als Südamerika und die Sowjetunion nicht mehr grösser als ganz Afrika. Auch die wirkliche Ausdehnung des
indonesischen Inselreiches wird deutlich. Brasilien erscheint in seiner echten Proportion, wie die Heimat aller farbigen Völker hier in ihrer tatsächlichen Grösse sichtbar
wird. Betrachtet man auf dieser Karte etwa die Sowjetunion und China, so versteht man die politischen Probleme zwischen diesen beiden fast gleichgewichtigen Riesen. Freilich mussten
für diese Vorteile absoluter Flächentreue, relativer Wohlproportioniertheit und vollständiger Rechtwinkligkeit Mängel in Kauf genommen werden. Dabei zählt die
sich zunächst aufdrängende Nicht-Übereinstimmung dieses Bildes der Erde mit unserer alten Vorstellung nicht zu diesen Mängeln. Denn dieses uns liebgewordene Bild der
Erde ist unhaltbar geworden in einem Augenblicke7,da die farbigen Völker in ihre Rechte getreten sind und ihre Länder endlich von uns wie von ihnen selbst in ihren echten Proportionen
wahrgenommen werden müssen. Die wirklichen Mängel liegen in dem bedauerlichen Umstande, dass auch die neue, ORTHOGONALE ERDKARTE eine Verzerrung von Gebieten mit sich
bringt, die in der Mercatorkarte globusähnlicher abgebildet waren. Wenn auch dagegen die Verzerrungen der Mercatorkarte in anderen Gebieten der Erde viel krasser sind, so dass
man durch ein Festhalten an ihr insgesamt auch in dieser Hinsicht nichts gewinnen würde, so muss sich die neue Karte doch mit ihren zum Teil ungewohnten Formen erst durchsetzen.
Bedenkt man aber, dass etwa Grönland auf der alten Weltkarte grösser dargestellt war als das siebenmal grössere Südamerika, dann wird man vielleicht
bereit sein, die bei der neuen Erdkarte in Äquatornähe besonders ins Auge fallenden Verzerrungen in Kauf zu nehmen.
Wohlgemerkt: es handelt sich bei der Verzerrung auf der neuen Weltkarte - im Gegensatz zu derjenigen
der alten Weltkarte - niemals um eine Verzerrung der Grössenordnungen. Die Proportionen der Kontinente und Staaten untereinander stimmen genau. Nur die Form weicht in
einigen Regionen der Erde mehr, in anderen weniger von den wirklichen Formen auf der Erde ab, wie bei allen Kartenprojektionen der gesamten Erdoberfläche. Dieser Mangel lässt
sich aber in einem Atlas leicht korrigieren, weil auf dessen Einzelkarten mit der gleichen Projektion unter Beibehaltung vollkommener Flächentreue die Kontinente und Länder
wesentlich formtreuer dargestellt werden können. Dass aber die Form unserer eigenen europäischen Heimat auf dieser neuen Erdkarte fast wirklichkeitstreu wiedergegeben
ist, lässt mich hoffen, dass die europäischen Völker sich mit ihr abfinden. Dass die farbigen Völker es begrüssen werden, endlich eine Weltkarte
zu besitzen, auf der sie selbst in der rechten Proportion und also mit ihrem echten, hinter ihrer Grösse stehenden Potential in Erscheinung treten, scheint sicher.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich bin nicht für die Abschaffung der
Mercatorkarte. Sie wurde vor 400 Jahren im Zeitalter der Entdeckungen geschaffen, damit die Seefahrer ihre Routen besser finden. Für sie war der Vorteil der Winkeltreue dieser Karte
so wichtig, dass sie dafür alle Verzerrungen in Kauf nahmen, sogar die Verzeichnung der auch für sie wichtigen Entfernungen, die auf der Mercatorkarte häufig 100
Prozent beträgt (so erscheint etwa die Entfernung Moskau - Behringstrasse auf der Mercatorkarte doppelt so gross wie die Entfernung Moskau - Ceylon, die in Wirklichkeit
genau gleich gross ist. Ebenso verhält es sich mit den tatsächlich gleichen Entfernungen Aden-Buenos Aires und Aden - Alaska, die auf ihr wie 1:2 erscheinen). Wenn sich
die Mercatorkarte trotz aller Nachteile bis heute gehalten hat, so muss ihr Wert für die Schiffahrt gross sein. Deshalb wird sie für diese Zwecke beibehalten werden,
solange sie die Anforderungen der Seefahrt erfüllt als Spezialkarte, wie sie auch die Luftfahrt hat. Es ist aber nicht einzusehen, warum Nicht-Seeleute sich zur Orientierung über
die Erde noch heute dieser und anderer ähnlich verzerrter Erdkarten bedienen.
Doch nicht nur unsere Erdkarten geben die Wirklichkeit in perspektivischer Verzerrung wieder, unsere
ATLANTEN vertiefen dieses Zerrbild der Erde. Sie sind insgesamt EUROPA-ZENTRISCH. Kleine Länder wie die Schweiz (41.000 qkm) werden auf einer eigenen Doppelseite dargestellt, wenn
sie den Vorzug haben, in Mitteleuropa zu liegen. Zehnmal grössere ausser-europäische Länder, wie Kamerun (475.000 qkm), muss man auf einer grossen
Übersichtskarte ("Afrika" oder "Nordafrika") suchen. Selbst ein 200mal grösseres Land wie Brasilien (8.512.000 qkm), ist nicht auf einer eigenen Doppelseite
dargestellt, sondern auf einer Übersichtskarte von Südamerika zusammen mit einem Dutzend anderer Staaten, oder es ist auf mehrere Teil-Übersichten von Südamerika
verstreut.
Die aussereuropäischen Staaten werden dabei in wesentlich kleinerem Massstab dargestellt;
auch kommen sie in ihrer Individualität nicht zur Anschauung. Dieser doppelte Mangel wird vom Benutzer aber nicht realisiert. So erscheinen die Staaten Mitteleuropas als selbständige
SUBJEKTE EINER INDIVIDUALISIERENDEN ERDBETRACHTUNG, die übrigen Staaten aber als blosse OBJEKTE EINER GENERALISIERENDEN GEOGRAPHIE.
Wie aber sieht es nun mit den GESCHICHTS-ATLANTEN aus, die in gewisser
Weise ein Bindeglied zwischen Geographie und Geschichte darstellen? Sie zeichnen sich durch DIE GLEICHE PERSPEKTIVISCHE VERZERRUNG aus wie unsere Geschichtsbücher, Atlanten und
Erdkarten. Eine Analyse der historischen Atlanten vom guten alten Putzger und Spruner bis zu den neuen westdeutschen (Westermann) und ostdeutschen (Volk und Wissen) Geschichtsatlanten
zeigen, dass durchschnittlich 56 Prozent der Karten der ausschliesslichen Darstellung Europas und seiner einzelnen Staaten gewidmet sind, während nur 8 Prozent der Karten
die übrigen vier Kontinente ohne Europa darstellen. Die restlichen 36 Prozent der Karten zeigen Europa mit Teilen der Welt. Dabei werden sie noch hauptsächlich als Objekte
europäischer Eroberungspolitik dargestellt. Zudem ist der grösste Teil unserer historischen Atlanten mit der Geschichte der letzten vier Jahrhunderte angefüllt (=
Blütezeit Europas), während die vier Jahrtausende vorher, in denen die Grundlagen unserer Kultur vorwiegend in Asien und Afrika geschaffen wurden, nur in wenigen, ganz groben
Zusammenfassungen behandelt werden (~ Blütezeit fast aller aussereuropäischen Länder). Dieses geographische Weltbild ist geeignet, die Selbstüberschätzung
des weissen Mannes, besonders des Europäers, zu verewigen und die farbigen Völker im Bewusstsein ihrer Ohnmacht zu halten. Ausserdem bleibt die Geschichte
Europas ohne die Kenntnis der Geschichte aller übrigen grossen Kulturen der Erde unverständlich. Statt als Korrektiv der Disproportionalität in den allgemeinen Atlanten
und Geschichtsbüchern zu wirken, unterbauen also unsere Geschichtsatlanten das enge perspektivisch verzerrte Weltbild. Schliesslich muss noch erwähnt werden,
dass 93 Prozent der Karten in den angegebenen historischen Atlanten eindeutig der politischen und Kriegs-Geschichte zugehören. So wird die Überschätzung der politischen
Seite der Menschheitskultur auch von unserer historischen Geographie getragen und gefördert.
Ein ganzheitliches Weltbild setzt aber die streng paritätische
Behandlung ALLER LÄNDER, ALLER LEBENSBEREICHE UND DER GANZEN HISTORISCHEN ZEIT voraus. Diese grundlegende Veränderung unseres geographisch-historischen Weltbildes ist nicht
von heute auf morgen zu verwirklichen - ihre Notwendigkeit wird aber durch die Weltentwicklung täglich zwingender.
Abschliessend dürfen wir feststellen, dass die Überwindung
der dreifachen perspektivischen Verzerrung der Wirklichkeit im geographisch-historischen Weltbilde der Gegenwart als Aufgabe erkannt ist, dass Wege zu ihrer Bewältigung
gefunden sind, und dass es Menschen gibt, die bereit sind, die hierfür notwendigen Arbeiten zu leisten.
Ich danke Ihnen, dass Sie mir durch Ihre freundliche Einladung die Möglichkeit gegeben haben,
Ihnen meine Arbeitserfahrungen, meine Anschauungen und meine Absichten mitzuteilen, und ich hoffe zuversichtlich, dass auch meine ungarischen Kollegen an den notwendigen Arbeiten
zur Vertiefung und Verbreitung eines umfassenden und also wirklichkeitstreuen historisch-geographischen Weltbildes teilhaben werden.
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