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Es
begann mit den aussterbenden Tieren. Nachdem sich die Menschheit jahrtausendelang Sorgen gemacht hatte über
die Anwesenheit von Bären in den Wäldern, galt mit einem Male die Sorge deren Abwesenheit [und
aktuell wieder deren Anwesenheit, Anmerkung Autor]. Zuerst
erweckten nur die verschwundenen Tiere nostalgische Gefühle, dann auch die, die möglicherweise
einmal verschwunden sein werden. Die Dinosaurier, verschwunden, bevor wir sie auch nur hätten kennenlernen
können, wurden in Hollywood wiederbelebt zu digitalen Leithammeln der Tiernostalgiebewegung.
Bald traten
Pflanzen an die Seite der gefährdeten Tiere. Vom Aussterben bedrohte Pflanzen haben den Nachteil, daß
sie meist unbekannt sind, und auch nicht so spektakulär mythisch wie Elefant und Jaguar. Anfangs war
es nicht leicht, für das immer seltener werdende südargentinische Niedersteppenkraut norddeutsche
Emotionen zu wecken. So mußte ein abstrakter Begriff, die Artenvielfalt, die Anschauung des nie Geschauten,
möglicherweise aber bald nicht mehr Anschaubaren ersetzen. Artenvielfalt ist eine Vorstellung, die
einen Quantitätsbegriff mit dem Versprechen des Bunt-Sinnlichen verbindet: ein Konzept, das nur einer
Konsumgesellschaft entsprungen sein kann, die sich auch noch das sichern will, was sie konkret wohl nie
konsumieren wollen und können wird.
Wenn sich
auch die Trauer über den Rückzug der gemeinen Kopflaus und der kurzbeinigen Bettwanze [siehe
beide rechts oben!] in Grenzen hält - die Diskussion über die Vernichtung des letzten Pockenvirus
hat jenseits aller Sachargumente auch etwas Rührendes. Wunderlich ist nur, daß die Artenschützer
sich so wenig getröstet fühlen, wenn man sie auf die baldige Überkompensation des Tierverschwindens
durch gentechnologisch erzeugte neue Bakterien und andere hybride Wesen hinweist. Eine zum Artenschutz spiegelbildliche
Bewegung, die hoffend und sehnend den ankommenden neuen Tierarten entgegenfieberte, wurde noch nicht gesichtet.
Vielleicht, weil das Teddybär-Syndrom als emotionale Grundlage der Tierbegeisterung ohne das Element
des Vergangenen und Verlorenen nicht funktionieren kann. Schließlich macht erst das Verschwinden,
und sei es nur als mögliches Verschwinden, Tiere und Pflanzen jenseits des eigenen Erfahrungsbereichs
für Gefühle attraktiv.
Wer sich
für alles Gefährdete engagiert, dem stellen sich knifflige Fragen, sobald ein Stück Natur
- naturgemäß - sich über ein anderes hermacht. Für wen soll man Partei ergreifen, wenn
der Borkenkäfer den Wald ganz gemein attackiert? Handelt man nicht naturwidrig und nach typisch menschlichem
Eigennutz, wenn man das Rind mehr schätzt als die armen kleinen Verursacher seines Wahnsinns? Nur aus
göttlicher und ökofundamentalistischer Perspektive befinden sich ein ausbrechender Vulkan und
die Tierwelt seiner Umgebung in einem harmonischen natürlichen Gleichgewicht.
Gefährdetheit
ist eine offenbar ansteckende Kategorie, sie wuchert so prächtig wie die gar nicht gefährdeten
Bakterien. Längst hat sie die Natur verlassen und auf den Menschen übergegriffen. Kinder zum Beispiel
- sind sie etwa nicht gefährdet? Frauen sowieso. Frauen sind wandelnde Gefährdetheiten. Nicht
zuletzt deshalb ist längst auch der Mann gefährdet - als Mann. Alte Menschen waren immer schon
gefährdet, lange bevor sie sich als gefährdet betrachten konnten. Der Stadtmensch ist von der
Stadt gefährdet, der Landmensch ist gefährdet, bald ein Stadtmensch zu werden, beide sind von
der Umwelt gefährdet und gefährden die Umwelt.
Gefährdung
ist ein verallgemeinerbarer Begriff, denn er benennt keine Wirklichkeit, sondern nur eine Möglichkeit.
Da alles, was ist, möglicherweise einmal nicht sein könnte, gibt es für die Behauptung der
Gefährdetheit keine Grenzen. Der Wunsch, selber bemitleidet zu werden, münzt sich um in Dauermitleid
für den Rest der Welt. Da der Bedarf an Beteuerungsformeln des Selbstmitleids mit zunehmendem Wohlstand
steigt, ist eines sicherlich nicht gefährdet: das Gerede von der Gefährdung.
Ganz besonders
gefährdet sind Minderheiten hinsichtlich ihrer Eigenschaft, Minderheiten zu sein. Denn mit fortschreitender
Selbstethnologisierung der Gesellschaft gibt es bald niemanden mehr, der sich nicht einer Minderheit zugehörig
fühlen möchte. Man muss langsam beginnen, sich um die letzten authentischen Punks, Yuppies, Hells
Angels, Wandervögel und Spießbürger Sorgen zu machen.
Wahrhaft
gefährlich aber wird der Gefährdungsgedanke, sobald man das Artenschutzprinzip auf ethnische Minderheiten
anwendet. Denn dabei naturalisiert man ein kollektives Selbstbild, interpretiert die Kultur in einer biologischen
Metapher und billigt ihnen die Pflege eines Nationalismus zu, der bei der Mehrheit nicht tolerabel
wäre. Wer den Nationalismus von Minderheiten fördert, darf sich nicht wundern, wenn danach auch
die Mehrheit nach nationaler Identität dürstet.
Nach den
Tieren, Pflanzen, Menschen und Kulturen kamen die Dinge dran. Kaum der immer kürzer werdenden Gebrauchsphase
entronnen, wird heute jedes Ding zum Artefakt und ist damit auch gefährdet. Die Kaffeetassen der vierziger
Jahre, die Perlmuttknopfvariationen der fünfziger Jahre, die Plastikautositze der sechziger Jahre -
sollen wir alles retten, archivieren, musealisieren? Hat alles, was je auf der Bühne der Welt erschienen
ist, dadurch an sich schon Wert und Recht auf ewige Konservierung?
Wenn ja,
dann ist die Weltgeschichte vorgezeichnet als ein Weg zur Arche Noah, zum universalen Zoo mit zwei Exemplaren
pro Gattung, zum totalen Museum aller je gewesenen Dinge. Aus der Natur wird ein Naturpark, und auch die
Menschen sind dann nur noch Darsteller von Lebensformen, die einstmals Formen des Lebens gewesen waren.
Die Welt wird zu einem einzigen großen Jurassic Park, zur Ausstellung ihrer selbst.
Zugegeben,
der bedingungslose Fortschrittsglaube, der die Bestände der Natur und Kultur nur als das kannte, was
zu überwinden sei, war einseitig und naiv. Doch seine spiegelbildliche Verkehrung, der Diskurs der
Gefährdetheiten, der neue Imperativ der Konservierung, ist es nicht minder. Die Vielfalt der Natur,
aber auch der Kultur, sind entstanden aus der Veränderungs- und Überwindungsdynamik, nicht aus
der Konservierung. Schont und hegt man sie, so nimmt man ihr paradoxerweise die Entfaltung ihrer Möglichkeit.
Gerettete Natur ist keine mehr, denn sie ist um ihr eigenes Prinzip gebracht.
Natur und
Kultur haben zumindest dies gemeinsam, dass sie von sich selbst gefährdet sind und aus ihrer Selbstüberwindung
heraus gedeihen. Nichts ist der Natur fremder, als ihre Schonung, nichts widernatürlicher als das Prinzip
der Verewigung. Weder Fortschritt noch Konservierung taugen zu absoluten Werten. Wo nur noch Rettung ist,
wächst das Gefährdete nimmermehr.
Die chemische
Industrie gefährdet die Natur, das Beharren auf dem angeblich Natürlichen gefährdet die Kultur.
Was sein soll, ist aus der stets wahren Tatsache der Gefährdetheit nicht abzuleiten. Was lebt, ist
auch gefährdet. Und nur, was gefährdet ist, lebt.
Am Ende
dieser Zeilen hab ich es geschafft. Guter Mensch bin ich keiner mehr. Dafür bin nun auch ich
- gefährdet.
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